Das Böse und unsere Schatten

Im Fernsehen, im Internet, in der Zeitung oder am Stammtisch: Katastrophen, Mord und Totschlag machen tagtäglich Schlagzeilen. Wir scheinen eine Art von Überrepräsentanz des Bösen zu erleben. Ob im Großen, wie bei Krieg, Zerstörung und Völkermord, oder im Kleinen, wie bei Mobbing, Schlägerei und Bestrafung. Wut, Aggression, Kriminalität und andere dem Bösen zugehörige Begriffe scheinen unsere Welt zu beherrschen und sie zu bestimmen. Und viele Menschen stehen ratlos davor und wundern sich, woher das alles kommt, sie sind doch selbst so lieb, liberal und tolerant. Keiner ist kriminell, das sind doch immer nur die anderen.

Das Böse als Schatten

Nach dem Krieg versuchten die Siegermächte, Deutschland zu “entnazifizieren”, also Verbrecher von Unschuldigen, Mitläufer von Aktiven und Täter von Opfern zu trennen. Doch es schien nach 1945 fast unmöglich, einen einzigen Nazi in Deutschland zu finden. Irgendjemand anderer war immer schuld, oder die Zeit “war eben so”. Man hat es “nicht gewusst”. “Mitmachen musste man ja…” Und dennoch wurden vorher Millionen Menschen für einen fanatischen Krieg und abermals Millionen Menschen für einen absurden Rassismus geopfert. Und keiner war es gewesen? In Wolfgang Staudtes Film von 1964 “Herrenpartie” wird genau dieses “Vergessen” thematisiert. Denn erst war es keiner, dann war es der Wunsch, die “ollen Kamellen” doch endlich mal ruhen zu lassen und dann kam die Zeit, wo man sich einfach nicht mehr erinnern konnte, weil alles “sooo lange her” war. Warum ich das so lang und breit erwähne? Weil alles mit individuellen und kollektiven unbewussten Anteilen zu tun hat und das Phänomen mit dem Schattenkonzept von Carl Gustav Jung ganz gut erklärbar ist.

Das Schattenkonzept Carl Gustav Jungs

Der schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung unterschied in seinem Schattenkonzept den persönlichen Schatten und den archetypischen Schatten. Frei nach dem chinesischen Sprichwort: “Das Böse lernt sich leicht, das Gute schwer…”, sieht er in ihnen wichtige, uns zugehörige Anteile, die sowohl ererbt als auch erlernt vorhanden sind. Er meint die dunkle Seite unserer Gegenwart und Zukunft. Der Begriff des Schattens konnte Carl Gustav Jung auch deswegen aufstellen, weil er sie selbst bei sich intensiv erlebte. Doch werden wir konkreter:

Der persönliche Schatten

Als persönliche Schatten bezeichnet Carl Gustav Jung alle verdrängten Inhalte, die nicht im Ich-Bewusstsein angenommen wurden. Das sind nicht zwangsläufig “böse” Gedanken und Empfindungen, sondern beinhalten auch gute und wertvolle Elemente. Doch es dominieren die Antiwerte, also all jene, die ich nicht wahrhaben will und als böse, als unangepasst und als kindisch ablehne. Das alles wird abgewehrt und ins Unterbewusste geschoben. In diesem Schattenreich tummeln sich, tiefenpsychologisch gesehen, nicht nur die Triebe, sondern auch unverarbeitete Kernkomplexe (die Einheit von Gefühlen, Gedanken, Wahrnehmungen und Erinnerungen), die sich wiederum in Affekten äußern können. Wir erleben diese Schatten im Traum, in Fantasiebildern, in Versprechern und Fehlhandlungen. Immer dann dringen unbewusste, also zurückgedrängte Inhalte aus ihrem “Schattendasein” nach außen. Und man kann bei sich selbst ganz leicht seine persönlichen Schatten erleben, wenn man sich ertappt, wo man beim Zappen hängen bleibt, wo man im Internetsurfen so landet und an welchen Gedanken man hängt. Oft wissen Freunde über die eigenen Schatten mehr zu sagen als man selbst.

In der analytischen Psychologie gibt es mehrere Methoden, mit den Schatten zu arbeiten wie: Traumarbeit, Unbewusstes Malen, Aktive Imagination oder Sandspiele. Im Gegensatz dazu setzt die Logotherapie und Existenzanalyse eher auf die Stärkung des Ichs als Bewusstseinselement, also der Entscheider. Hier geht es weniger um die durch Trieb und Schutz verdrängten Anteile, sondern eher um die durch das Ich getroffenen Entscheidungen.

Das eigentlich Tragische an der Verdrängung ist nicht der Inhalt der Schatten selbst, sondern die Tatsache, dass die Inhalte des Schattens gerne auf andere projiziert werden. Dadurch kommen sie zwar auf die Außenseite, aber werden dadurch unabhängig von einem selbst und entfliehen unserer Verantwortung.

Ein einfaches Beispiel: Ich bemerke bei mir den Hang zu Chaos und Unpünktlichkeit. Ich selbst verachte das (vielleicht als Folge der Erziehung, rsp. Über-Ich). Die zurückgedrängten Teile in mir, das Chaotische und das Unpünktliche, sind also für mich und von mir als “böse” gebrandmarkt, als schlecht determiniert. Durch die Verdrängung erkenne ich nicht, dass diese Teile zu mir gehören, sondern sehe und erkenne sie nur im Gegenüber, der chaotisch und unpünktlich wirkt. Und an diesem Anderen stören mich diese Teile nun massiv, da ich die abgewehrten und im Schatten meiner selbst verorteten Inhalte schon lange vorher verurteilte. Daher wirken seine Anteile an Chaos und Unpünktlichkeit besonders schlecht und fehlerhaft, ja, schon aufreizend negativ. Und nun kommt noch etwas hinzu, was besonders tragische Auswirkungen hat. Entdecke ich auch andere Inhalte, die ich unter “böse” oder “schlecht” subsumiere, wie unangepasste Triebwünsche, Neid, Eitelkeit etc., so werden diese in meinem Schatten befindlichen Inhalte gleich mit auf den Anderen projiziert. Summa summarum: Der Andere ist ein schlechter Mensch, unpünktlich, chaotisch, liederlich und triebgesteuert. Doch was passiert nun? Meine Anteile am Schatten habe ich auf einen anderen geschoben und dadurch bearbeitet. Ich fühle mich besser, weil der Andere die Personifizierung des Schlechten ist. Geschieht das weiterhin unreflektiert, kann es zu abgrundtiefen Hass führen, weil neben der totalen Ablehnung seiner eigenen abgeteilten Inhalte noch die Angst der Rückübertragung kommt. Und nun denken wir noch mal an die Naziezeit und deren Feindbilder…

Unsere Schatten sind demzufolge ein energetisches polares Gegenüber zu unserem Ich. Sie haben die Funktion, uns herauszufordern und zu animieren, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Das wäre ein gesunder Individuationsprozess. Geschieht das aber nicht, sondern fließt die Energie in die Projektion auf ein vermeintlich willfähriges Opfer, können daraus zerstörerische und böse Tatsachen entstehen, die in den Jahrhunderten immer wieder zu Barbarei, Unterdrückung, Folter, Mord und Totschlag bis hin zu Genoziden führten.

Der Sinn der Schattenerkennung ist die Erlangung zu mehr Ich-Sicherheit. Barbara Hannah sprach in diesem Zusammenhang einmal davon, dass es immer sinnvoll sei, seine Schatten zu akzeptieren, da sie zu kennen niemals Verlust bedeute, auch wenn Illusionen zerstört werden könnten. Denn der Individuationsdrang zur Ganzheit bedarf auch des Leidens am eigenen Schatten als Möglichkeit, mit ihm umzugehen. Kurz: Wenn ich akzeptiere, dass ich mich oft fürchte, dann zerstöre ich zwar die Illusion des Helden, aber erschaffe die Möglichkeit, kleine Heldentaten zu vollbringen. Die Akzeptanz meiner “Feigheit” kann also zu individueller Modulation und gemeinschaftlicher Toleranz führen.

Der archetypische Schatten

Neben dem persönlichen Schattenkomplex kennt die analytische Psychologie auch kollektive Schatten in der individuellen Tiefenschicht unseres Unbewussten. Diese offerieren sich nach Carl Gustav Jung in sogenannten Urmythen wie bei Kain und Abel, Osiris und Seth oder Balder und Loki (Immer ermordet jemand einen anderen…). Stets geht es um die Frage nach Gut und Böse, nach Dunkel und Hell, aber auch nach relativ oder absolut.

Archetypische Schatten sind also Urbilder des absolut Bösen, also der jeweilige negative Pol einer Gut-Böse-Dynamik, wie sie immer wieder versucht worden ist, aufzuzeigen. Im Christentum gibt es beispielsweise die sieben Todsünden (SALIGIA): Hochmut (Superbia), Habgier (Avaritia), Wollust (Luxuria), Zorn (Ira), Völlerei (Gula), Neid (Invidia) und Trägheit (Acedia). Diese Archetypen wurden in der klösterlichen Welt als Urbilder des Bösen definiert. Aber auch dort entstanden sie aus der Abhängigkeit des klösterlichen Alltags heraus. Das Leben war geprägt von Entsagung, religiöser Betrachtung, Gruppendynamik und natürlich Arbeit. Aus diesen Erfahrungen heraus wurden die Sieben Todsünden als Archetypen der menschlichen Schwächen, Laster und Leidenschaften gesehen.

Die archetypischen Schatten beinhalten also auch den von Sigmund Freud eingeführten Begriff des Todestriebes (Thanatos) und beinhalten bei uns allen mitangelegte Aggressionen, Zerstörungswut und destruktiven Seiten. Dass dieses eine alte Weisheit ist, zeigen allerlei Hexen, Teufel, Dämonen, wilde Tiere, Zombies, Drachen und was es sonst noch so gibt. Und das heutzutage um so mehr. Sie scheinen unserem seelischen Bedürfnis zu entsprechen, die archetypischen Inhalte zu bebildern und dadurch zu bannen. Wie relevant diese so esoterisch und vermeintlich als überholt zu haltenden Gedanken sind, zeigen Computerspiele, Filme, Bücher und andere Medien, die immer mehr Elemente einbauen, die die Grenze zwischen Realität und Fantasie verschwimmen lassen. Archetypische Schatten scheinen uns gerade heutzutage wieder sehr stark zu berühren. Viele Fantasyabenteuer evozieren das befriedigende Gefühl, als Held erfolgreich gegen Dämonen gekämpft zu haben – ein Urbild des Kampfes unseres Ichs gegen archetypische Schatten.

Als Archetyp kann also auch als ein Rollenbild, also ein Über-Ich-Inhalt angesehen werden, welches unsere Geschichte strukturiert und unser kulturelles Wissen leitet. Daher findet man sie auch in Märchen, Sagen und Mythen.

Archetypische Schatten speisen sich also aus zurückgedrängten Inhalten, die sich als gesellschaftlich nicht förderlich erweisen. Also wenn man faul ist, zeigte sich, dass andere erstens mehr jagen mussten, um für den zu sorgen, oder er eben verhungerte. Ergo: Es zeigte sich, dass “Faulheit” eine zu vermeidende und abzulehnende Schwäche sei. Jede individuellen “faulen” Momente hatten ab sofort den Ruch des Unerlaubten, des Abgelehnten. Und jede neue Generation lernte, dass es “ungeschriebene Gesetze” gäbe, wie beispielsweise, dass “Faulheit” schlecht sei. Archetypische Schatten sind also auch sich verselbständigende und in der Gesellschaft fest verankerte Karikaturen individueller Schatten. Das Ziel Carl Gustav Jungs war die Individuation des Einzelwesens, was für ihn bedeutete, dass wir unter unserer Individualität “unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen” [und] “zum eigenen Selbst werden. Man könnte ,Individuation' darum auch als ,Verselbstung' oder als ,Selbstverwirklichung' übersetzen." Der Prozess der Individuation befähigt uns also, unsere Beziehung zum sozialen Umfeld zunehmend eigenverantwortlicher, bewusster und zielstrebiger zu etablieren und zu gestalten.

Und nun schauen wir nochmal auf die Nazizeit: Alle archetypischen dunklen Schatten wurden bebildert, die entstandene Zentralfigur war der “Jude” als Feindbild. Sämtliche Karikaturen Philipp Rupprechts (Fips) im “Stürmers” zeigten die Dämonisierung des Judentums. So absurd die Überspitzungen, Hinzudichtungen und Unterstellungen auch waren, in ihrer Sammlung zeigten sie alles Schlechte, Verkommene und Böse. Sie schienen die Repräsentanz des Bösen ausgelagert zu haben. Dadurch konnte jeder einzelne Leser in der Karikatur auch seine verdrängten Anteile sehen und abladen. Die Hasskarikatur des “Juden” der Nazis war also auch das gesammelte Böse aller derjenigen, die ihn schufen, die ihn als solchen akzeptierten, die ihn hinnahmen. Die Vernichtung dieser Figur, abermillionenhaft, war also eine Art Dämonenvertreibung. Und nun plötzlich galt das alles nicht mehr. Und da geht es nicht um Logik, menschlichen Verstand oder gar Mitleid. Das bisherige Feindbild hatte sich durch die individuelle Schattenarbeit bereits so verselbständigt, dass es weder in seiner ganzen Tiefe zu erkennen noch in seiner Radikalität und Auswirkung verstehbar war.

Fazit

Das Böse oder unsere Schatten zeigen uns mehr, als wir wahrhaben wollen. Sie mitbestimmen unser Denken, Fühlen und Wollen durch ihre psychische Energie und Dynamik. Nach Carl Gustav Jung kommen sie aus den Tiefen zurückgedrängter Inhalte, aus dem Unbewussten und triebhaft Abgewehrten. Viktor Frankl wiederum weist darauf hin, dass der Mensch sowohl sinnbedürftig als auch sinnfähig ist, also einen “Sinn” zum Leben und zum Überleben braucht. Und dieser Sinn existiert stets schon vorher, wir müssen ihn nur noch zu schöpfen und zu erkennen wissen. Mithilfe der reflektiven Kraft unseres Bewusstseins und seines kommunikativen Transportmittels, der Sprache, können wir also unsere Schatten als sinnerfüllte Inhalte begreifen, die sich zu vergegenwärtigen, uns helfen können, mehr von uns, von unserem Ich-Bewusstsein zu begreifen und zu erfassen. Und das wiederum kann dazu führen, weniger aggressiv, intolerant und abwehrend gegenüber anderen Menschen zu sein. Denn jede Schublade braucht vorher eine unbewusste Angst, die man bewusst nicht akzeptiert. Erich Neumann, ein Psychoanalytiker und Schüler Jungs, meinte einmal, dass allein die Integration seiner eigenen Schatten schon sehr viel mehr Frieden und Ruhe in die Welt brächte als alle Diplomatie zusammen. Das hielt Carl Gustav Jung für doch etwas zu optimistisch. Aber dennoch ist eine wesentliche Erkenntnis, dass die Akzeptanz des eigenen Schattens schon der Anfang der Akzeptanz des Dunklen als solches ist. Dadurch können wir auch die bei anderen Menschen vorhandene Schatten sehen und tolerieren. Denn die Schatten sind nicht nur unbewusste und verdrängte Inhalte, sondern auch energetische Anteile und Ressourcen, die sich bewusst zu machen auch eine Entscheidung sind.


Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

Zurück