Extrovertiert – Fluch oder Segen?
Täglich benutzen wir Worte wie extrovertiert und introvertiert. Dabei entstehen oft Missverständnisse bis dahin, dass extrovertierte Typen die “Guten” sind, weil sie auf Leute zugehen, nicht alles in sich reinfressen und ein gesundes Maß an Individualität und Konsens ausstrahlen. Introvertierte Typen sind hingegen die Komischen, die muffelig sind und irgendwann von der Brücke springen. Dass das natürlich Unsinn ist, soll diese Übertreibung zeigen. Aber was es mit den Begriffen eigentlich auf sich hat und woher die kommen, darauf will ich in den nächsten Malen eingehen. Heute geht es um den extra- oder eben extrovertierten Typus.
Ein kleines Vorwort zur verwendeten Quelle
Über die berühmten und allseits bekannten Psychologen und Psychiater des 20. Jahrhundert gibt es Schränke voll guter Sekundärliteratur. Und wenn man sich mit C. G. Jung beschäftigen will, muss man ihn gar nicht mehr selbst lesen, sondern es reichen oft gut recherchierte und exzerpierte Zusammenfassungen. Aber dennoch empfehle ich es. Denn es ist nicht nur der Inhalt, der frappierend ist, sondern auch der Schreibstil, die philosophische Herangehensweise und das pure Lesevergnügen. So geschehen auch bei Jungs allgemeiner Beschreibung der psychologischen Typen. Nun ist es paradox, hier zum einen zu empfehlen, lieber mal das Original als immer nur die Sekundärliteratur zu lesen, aber zum anderen selbst nur sekundär zu werden. Aber der Grund liegt darin, dass C. G. Jungs Beschreibung den Rahmen eines Blogbeitrags sprengt. Daher soll dieser Beitrag anregen, ihn einmal im Original zu lesen. Es lohnt sich.
Allgemeine Beschreibung der Typen
Zunächst unterschied C. G. Jung zwei grundsätzliche Typen, den extravertierten(1) und den introvertierten Typus. Er beschrieb sie als “Einstellungstypen”, nämlich nach ihrer Einstellung zum Objekt. Der introvertierte Typus ist demzufolge abstrahierend, er will permanent dem Objekt die Libido (bei C. G. Jung ist das die "psychische Energie") entziehen, um dessen Übermacht vorzubeugen. Der extravertierte Typus ist dem Objekt hingegen positiv eingestellt. Er überhöht dessen Bedeutung und richtet sich immer nach ihm. Paradoxerweise ist der Wert des Objekt nie genügend hoch und wird daher von ihm ständig überhöht - soweit die kurze Theorie. Aber was heißt das eigentlich alles?
Subjekt und Objekt
Das Leben besteht aus einer permanenten Anpassung zwischen Subjekt (das sind wir selbst) und Objekt (das sind die anderen). Wie wir auf unser Gegenüber, also das Objekt reagieren, entspringt unserer Einstellung. Finden wir Horst Schulz doof, werden wir ihm anders gegenübertreten als der netten Nachbarin Monika Müller. C. G. Jung geht aber noch viel weiter zurück und paraphrasiert die zwei fundamental verschiedenen Wege der Anpassung:
- extravertiert sei die gesteigerte Fruchtbarkeit bei gleichzeitig geringer Verteidigungsstärke und
- introvertiert sei die verminderte Fruchtbarkeit bei gleichzeitig erhöhter Verteidigungsstärke.
Was meint er damit? Die Assimilationsfähigkeit des einen (extravertiert), also die Verbreitung von sich bei anderen, die Vielzahl von Beziehungen und Interaktionen ist eine gangbare Einstellung gegenüber dem Objekt (also gegenüber seinen Mitmenschen oder seiner Umgebung), die Zurückhaltung (introvertiert), Schonung seiner Energiereserven und sparsame Beziehungsgestaltung (C. G. Jung nennt das "Monopolisierung"), die die eigene Position sichern, ist eine andere gangbare Einstellung zum Objekt.
Introvertiert und extravertiert am Beispiel
Ein Beispiel: Die Wolken hängen tief, es ist dunkel und schwül. Regen droht jede Sekunde zu fallen. Der eine hat aufgrund der Wettervorhersage längst geeignete Vorsorgemaßnahmen getroffen und geht vorbereitet in den drohenden Regen. Der andere jedoch findet das unnötig und albern und geht, ohne sich entsprechend mit Schirm oder Regenmantel zu präparieren. Oder noch ein anderes Beispiel: Das Konzert ist ausverkauft, ein berühmter Pianist spielt ein berühmtes Klavierkonzert, alle sind begeistert. Der eine klatscht frenetisch mit und feiert in der Gesellschaft die allgemeine Bewunderung, der andere geht nicht hin, weil ihm a) der Pianist zu massenkompatibel ist und er b) das Stück langweilig findet. Er hört sich lieber einen Dudelsackspieler an, den keiner kennt und der seine Uraufführungen im Keller spielt.
Der erste orientiert sich an den gegebenen äußeren Tatsachen, er passt sich dem Objekt an. Der andere reserviert sich eine eigene Ansicht der Dinge, die zwischen ihm und dem Objekt stehen.
Der extravertierte Typus im Bewussten
Wenn nun die “Orientierung am Objekt”, also an äußeren Tatsachen überwiegt, sich Entschlüsse und Handlungen nicht durch subjektive Ansichten leiten lassen, sondern eher durch objektive Verhältnisse bedingen, spricht C. G. Jung von einem extravertiertem Typus. Hier ist das Objekt die determinierende (bestimmende) Größe. In seinem Bewusstsein ist die äußere Bedingung wichtiger als seine subjektive Ansicht. Trotz einer eventuell inneren Auseinandersetzung zwischen subjektiver Ansicht und objektiver Bedingung gewinnt meistens letztere, aber auch, weil das Subjekt das Äußere als dominant erwartet. Daraus formen sich psychologische Funktionen wie Aufmerksamkeit und Interesse. Sie folgen in erster Linie äußeren, objektiven Einflüssen und Vorkommnissen. Das betrifft nicht nur Personen, sondern auch alle Dinge der näheren Umgebung, die Interesse hervorrufen. Auch das Handeln richtet sich nach den Einflüssen dieser Personen und Dinge. Demzufolge ist es durch die äußeren Bedingungen erklärbar. Und auch der in der Handlung implizite Wertekanon entspricht dem der determinierten Sozietät. Also was die anderen als richtig und gut sehen, nehme ich auch als Maßstab für mich.
Nun entspricht dieser Anpassungsgedanke oder die unbedingte Assimilation vielleicht dem Idealtypus, doch weit gefehlt. Denn sie ist nur idealtypisch als Ziel, kann aber niemals vollkommen erreicht werden. Zu sehr abnorm verhalten sich äußere Bedingungen und Objekt zu Subjekt und Zeit. Sprich: Es gibt viel zu viele "objektive Gegebenheiten", um das Einzige und wirklich “Richtige” herauszufiltern. Anpassung an eine kleine Gruppe von Andersdenkenden ist genauso eine äußere Anpassung wie die Internalisierung gültiger Gemeinplätze.
Ein Beispiel: Der extravertierte Hans Lehmann studiert in einem kleinen Städtchen Jura und begeistert sich für die Ideen der Demokratie. Aha, sagt man sich, Mainstream, macht ja jeder. Aber wenn man bedenkt, dass Hans Lehmann nicht 2020 studiert, sondern 1820, bekommt diese Ansicht eine ganz andere Konnotation. Jetzt scheint er also ein introvertierter Individualist und Freidenker zu sein. Aber wenn man nun wiederum seine Umgebung mit einbezieht und sieht, dass um ihn herum ebenfalls nur Studenten mit aufklärerischen Idealen und demokratischen Ideen studieren, zeigt es sich wieder ganz anders. Hans Lehmann ist zwar abstrakt gesehen Individualist gegenüber der herrschenden Gesellschaftsschicht, aber extravertiert in seinem Denken und Handeln durch seine Peer Group. Es kommt also immer darauf an, aus welcher Perspektive man das Handeln, Denken, die moralischen Werte und die Anpassung sieht. Extravertiert, so zumindest sollte das Beispiel zeigen, heißt nicht Duckmäusertum und Unterordnung, sondern die Hinwendung zu einer Gemeinschaft, wo der subjektive Gedanke weniger zählt als eine objektive Komponente, die auch klein sein kann. Aber extravertiert ist auch kein Synonym für histrionisch oder sehr einfach ausgedrückt “Rampensau”.
Der empfindliche Punkt aber dabei ist, dass die Überbetonung der Außenbedingung zur Unterrepräsentanz der eigenen Bedürfnisse führt. Denn die Gefahr ist, dass sie als zu wenig "objektiv", also als zu wenig relevant erlebt und daher vernachlässigt werden. C. G. Jung spricht davon, dass dieser Gleichgewichtsverlust zu eventuellen psychosomatischen Symptomen (Konversionsstörungen) führen kann, da er selten rechtzeitig als Mangel wahrgenommen wird. Paradoxerweise bekommen diese körperlichen Symptome nun wiederum “objektive” Relevanz, die durch äußere Veränderungen reparabel sind. Vereinfacht gesagt: die Verspannung braucht eine Massage, die Bauchschmerzen eine Tablette.
Durch die Gefahr der subjektiven Aufgabe ins Objektive, also der Übertreibung der äußeren Ansprüche gegenüber seinen eigenen, bekommen die somatischen Beschwerden oft eine korrelative Bedeutung. Sie “wollen” das Subjekt zu einer unfreiwilligen Selbstbeschränkung anhalten, um sich nicht vollständig im Objekt zu verlieren. Beispiel: Ein Sänger wird berühmt, Agenturen reißen sich um ihn, Konzertveranstalter buchen ihn wie wild. Er sonnt sich ihm Ruhm und genießt die objektive Situation der Bewunderung. Man könnte fast sagen, er bewundert sich selbst. Er singt mehr und mehr; höher, schneller, weiter… Doch da bricht die Stimme, er bringt keinen Ton mehr heraus. Ende vom Lied, im wahrsten Sinne des Wortes. Bekannte Phänomene neurotischer Auswirkungen von übertriebenen und unreflektiert extravertierten Persönlichkeiten können dissoziative Störungen (F44) und histrionische Persönlichkeitsakzentuierungen (F60.4) sein. Die in Klammern genannten Ziffern beziehen sich auf die gültige Klassifikationsliste psychischer Krankheiten, die ICD 10. Sie sollen den Krankheitswert vernachlässigter Subjektansprüche unterstreichen.
Im Unbewussten begegnen wir nun einer Situation, die C. G. Jung als “Protest der unterdrückten Minorität'' bezeichnet, also die Rebellion der Bedürfnisse des Subjekts. Die Anpassung an die objektiven Bedingungen und die Assimilation dieser oktroyierten Gefühls- und Gedankenwelt (Beispiel Sänger: “Ich bin berühmt, toll, heldenhaft, erfolgreich” etc.) verhindert oder verdrängt sogar die Bewusstmachung “unzulänglicher subjektiver Regungen”, die sich in Gedanken, Wünschen, Affekten, Bedürfnissen oder Gefühlen ausdrücken. Je mehr diese eigenen Regungen unterdrückt werden, desto regressiver werden sie. Also noch anschaulicher: Je mehr man seine Energie in äußere Dinge steckt, desto trotzig-infantiler werden die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, da sie unberücksichtigt bleiben und sich nicht entwickeln können. Bis hin zum archaischen Instinkt verkümmert nun unsere Libido(2). Die Individuation(3) bleibt unterentwickelt. Dadurch kann es passieren, dass extravertierte Menschen in ihren Wünschen und Ansprüchen infantil, selbstisch und primitiv wirken, weil sie der Entwicklung eines reichen Innenlebens die Energie entzogen und sie komplett für die Überhöhung des Objekts verwendeten. Je bewusster nun eine extravertierte Einstellung ist, desto infantiler ist die unbewusste Einstellung zu sich. C. G. Jung spricht in diesem Falle von “ein[em] das Kindische weit überschreitende[n] und an das Ruchlose streifende[n] brutale[n] Egoismus, welcher die unbewusste Einstellung charakterisiert.”(4) Hier wollte ich ihn mal original zitieren, um auch seine Sprachgewalt zu zeigen.
In der permanenten Zurückdrängung der unbewussten und subjektiven Ansprüche verlieren sie auch ihre kompensatorischen Aufgaben. Sie können in direkte Opposition zu den bewussten, ausschließlich dem Objekt zugewandten Einstellungen treten. Hervor kommt ein durch C. G. Jung so treffend beschriebener Egoismus und Infantilismus. Das kann sich darin zeigen, dass der persönliche, nach außen hin postulierte Standpunkt übertrieben wird (man erinnere sich an die Corona-Diskussionen…) und der eigene subjektive, infantile Anspruch alles dominiert und pseudo-subjektiviert ist. Als Beispiel für solch Pseudo-Subjektivierung kann wiederum unser berühmte Sänger dienen: Auf dem Höhepunkt seiner Karriere glaubt er selbst an die Macht seiner Berühmtheit und will nun immer mehr nur noch eigenes von ihm Verfasstes singen, weil er seine subjektiven Triebe gleichgestellt sieht mit der objektiven Berühmtheit seiner Sangeskunst. Er tritt also nachwievor in großer Geste und mit gewaltigem Tone auf, rezitiert infantile von ihm eigens verfasste Gedichte und singt sie auch noch. Dem Ruhm folgt die Schmach, die ihn schneller vom Sockel des Heroen in den Staub des Lächerlichen herabstürzen lässt, als er es aufzuhalten vermag. Oder aber der extravertierte Mensch erlebt einen Zusammenbruch, der sich in einer Depression oder einem Burn-Out bis hin zum Suizid äußern kann. Beiden gemein ist die Nichtanerkennung der unbewussten Neigungen, Gefühle und Triebwünsche. Dadurch werden sie negativ verstärkt, was C. G. Jung u. a. als “Herausbildung eines destruktiven Charakters” bezeichnet.
Fazit
Dieser kleine Exkurs in den Typus des extrovertierten Menschen soll deutlich machen, wie Prozesse idealtypisch ablaufen können. Und natürlich tragen wir immer mehrere Typen in uns, es gibt viele Resilienzfaktoren, Introversionen und Bewusstseinsüberlagerung, die beständig Wahrnehmung, Reaktion und Gefühl abgleichen. Und dennoch soll dieser kleine Überblick zeigen, welche Tendenzen auch wir harmlosen “Normalos” in uns tragen, denn der extravertierte Typus zeichnet sich dadurch aus, dass eine beständige Vormachtstellung der objektiven Bedingungen gegenüber den eigenen subjektiven Ansprüchen im Ablauf psychischer Prozesse besteht. Und bei einigen von uns liegt dieser Gedanke nahe.
Fußnoten:
- extravertiert oder extrovertiert? Sie beide sind Adjektivbildungen des Begriffes Extraversion, welches von C. G. Jung geprägt wurde. Diese Adjektive sind Zusammensetzungen aus dem lateinischen Verb "vertere" = kehren, wenden, drehen und der Vorsilbe "extra" = außen, außerhalb. Also ist Extraversion resp. extravertiert richtig. Aber aufgrund der Klangangleichung zu introvertiert wurde schnell extrovertiert. Die originale Schreibweise C. G. Jungs lautet aber extravertiert.
- Bei C. G. Jung geht der Libido-Begriff deutlich weiter als bei Freud und meint im Prinzip die Gesamtheit der subjektiven psychischen Energie.
- Selbstwerdung des Menschen und Entwicklung des Bewusstseins einer eigenen Individualität.
- Jung, Carl G.: Gesammelte Bände 1-19; 6. Band: Psychologische Typen. – [Sonderausg.] – Düsseldorf 1995. S. 362ff.
Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.