Ich ritze also bin ich – Autoaggression bei Jugendlichen

Sich selbst zu verletzen, gehört bei vielen Menschen zu ihrem Alltag. Piercings und Tätowierungen gehören dabei genauso dazu wie das Ritzen an Armen und Beinen. Dennoch unterscheiden sich diese scheinbar ähnlichen und Schmerz hervorrufenden Verletzungsarten entscheidend. Beispielsweise haben alle Arten der Haarentfernung wie Epilation, Rasur und Waxing oft einen ästhetischen Hintergrund, ähnlich wie bei Piercings, Ohrlöchern und Tätowierungen, die hier wiederum oft dekorativen oder manchmal auch ideologischen Charakter haben. Der dabei entstehende Schmerz wird erduldet, würde aber bei einer schmerzfreien Alternative meistens auch vermieden werden.

Wo fängt Selbstverletzung an?

Die Haut ist nicht nur das größte Organ des Menschen, sondern auch oft der beste Transmitter zwischen Gefühl und Empfindung. Sie ist die Grenze zwischen innen und außen. Und wie bei unseren evolutionären Nachbarn, den Menschenaffen sehr schön zu beobachten ist, wie sie sich tagsüber lausen und streicheln, kraulen und krabbeln, so ist auch die Haut des Menschen ein dankbares Medium für Streicheleinheiten, Zärtlichkeit, Wohlfühlkuren und Signal für allerlei Gefühlssituationen.  So kann eine Gänsehaut den Schauer vor Kälte oder gefühlsübermannender Musik zeigen. Hautreizungen können durch profane Trockenheit hervorgerufen werden, oder aber ein seelisches Ungleichgewicht nach außen tragen. Lippenherpes kann eine perhorreszierende Reaktion auf eine ungewollte Nähe, einen strengen Geruch oder einer widerwärtigen Speise sein. Die gesamte Spa-Industrie baut auf die Fähigkeit der Haut, Wohlbehagen auszulösen. Dieses wichtige Phänomen spielt bei der Selbstverletzung auch eine große Rolle, wie wir noch sehen werden.

Das Ritzen

Im Gegensatz zu den oben beschriebenen und eher der Ästhetik zuzuordnenden schmerzvollen und hautverletzenden Aktionen, gibt es noch andere nervositätsbedingte Handlungen, wie das beständige Nägelkauen, das Herumpopeln an Wunden, das sich Herausreißen von Haaren (in seiner pathologischen Form auch Trichotillomanie genannt) und eben das Ritzen als die „klassische Form“ der Autoaggression.

Ritzen als Erleichterung

Das absichtliche Hinzufügen von Schnitten auf der Haut, auf den Armen und Oberschenkeln und auf dem Bauch dient meistens der Erleichterung einer unerträglichen Anspannung. Viele Betroffene berichten, dass die Verletzung wie ein Ventil für die Anspannung ist, und wie erleichternd und angenehm sie das Ritzen empfinden. Oft wird dabei kein primärer Schmerz gespürt. Das Ritzen soll stabilisierend wirken und hilft, dissoziativen Zuständen entgegenzuwirken.

Ritzen als Bestrafung

Oft dient die Selbstverletzung der Bestrafung des eigenen Unvermögens, dessen Repräsentant der eigene Körper ist: Man hasst ihn, weil er nicht so funktioniert wie erwartet. Das Ritzen ist also eine Form der schwarzen Pädagogik. Und wie schon immer Straftäter auch körperlich misshandelt wurden, also Machtausübung immer auch etwas mit Demütigung und Schmerzerzeugung zu tun hat, so ist die Bestrafung des eigenen unvollkommenen Körpers auch nur unter Aufwendung von Schmerz (Damit er das endlich begreift!) möglich.

Ritzen als Quelle des Selbstwerts

Nach langen Jahren des Ritzens entsteht aus der Permanenz der Züchtigung und der Demütigung der Haut auch ein gewisser Stolz, die Torturen ausgehalten und aufgenommen zu haben. Das eigene Selbst wertet sich also aufgrund der Schmerzunempfindlichkeit und des „Beweises“ all der „grausamen Jahre“ (viele, viele Schnitte und schlecht verheilte Narben) auf. Als Besitzer der eigenen Haut ist man stolz darauf, das alles ertragen zu haben. Diese Tatsache hebt den Selbstwert.

Autoaggression und Initiation

Die Fürsorge zu seinem eigenen Körper, also die Schadensbewahrung und der Versuch, ihn möglichst gesund zu halten, wird im Leben oft ausgehebelt. Da braucht man gar nicht erst zum Ritzen zu gucken, das fängt mit Cola an, geht beim Rauchen weiter, dehnt sich besonders bei Alkohol und Drogen aus und hört bei stressbedingtem Schlafmangel noch lange nicht auf. Was ich damit sagen will: Autoaggression ist als Form verminderter Körperfürsorge immer auch situativ und entwicklungspsychologisch begründet. So gibt es auf der Schwelle vom Jugendlichen zum Erwachsenen vielerlei jahrtausendealte Initiationsriten, deren wichtigster Bestandteil oft das Aushalten von körperlichen und seelischen Qualen ist. Ob dabei seltsam erscheinende Praktiken aus Völkern Afrikas oder die Aufnahmerituale einer Gang in Berlin Marzahn beschrieben werden, ist nebensächlich. Die Grausamkeiten oder Misshandlungen sind natürlich sehr verschieden, oft bleiben nur noch Symbole übrig (Ritterschlag, Jugendweihe, Taufe). Was hat aber nun Autoaggression mit der Initiation zu tun? Ganz einfach: Man ist bereit, mithilfe autoaggressiven Verhaltens eine bisherige Schwelle des Lebens spürbar zu übertreten, oder anders gesagt, nur mithilfe eines gewissen Rituals, der manchmal Schmerzen beinhaltet, ist es möglich, Entwicklungsschritte abzuschließen und neue zu beginnen.

Wer ritzt sich und warum?

Da sehen wir ein Mädchen um die 17 Jahre alt mit den verstörenden Zeichen des Ritzens auf ihrem Arm. Was soll man da machen? Meistens sagt man nichts, man schämt sich fast, es bemerkt zu haben. Neben den Peer-Group-Effekten (man ritzt sich halt, alle machen das…) kann das Ritzen als eine Art Impulskontrollstörung angesehen werden, hat Suchtcharakter und kann sich daher verselbständigen. Manchmal dient das Ritzen auch dazu, ein Gefühl zu provozieren (ähnlich den kurzen Glücksmomenten beim Kaufrausch). Oft handelt es sich um pubertierende oder adoleszente Jugendliche mit einem sehr hohen Selbstanspruch, der nicht erfüllt werden kann. Das überfordert sie und führt zu Stress. Dann wieder gibt es diejenigen, die in dem berühmten Autonomie-Abhängigkeits-Dilemma stecken. Wieder andere benutzen Ritzen symbolhaft und wollen Liebe durch Mitleid erzwingen. Natürlich gibt es noch deutlich stärkere Störungsbilder, wie zwanghafte oder affektive Störungen (beispielsweise bei Depressionen) oder ganz krasse Psychosen (illusionäre Verkennungen), die dann bis zu Selbstverstümmelungen führen können.

Wer ritzt, hat Borderline ­– stimmt das?

Und was habe ich vergessen? Ja, die Borderliner (Borderline-Persönlichkeitsstörung = BPS). Und zwar deshalb, um nochmal mit aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, dass ein Borderline-Syndrom eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung ist und damit Impulsivität und Instabilität auf sehr eindrückliche Art gestört oder unkontrolliert sind. Dass sich Menschen mit BPS ritzen, wird wahrscheinlich sein, aber dass Menschen, die sich ritzen, BPS haben, ist dennoch eher selten. Und nochmal: BPS ist eine tiefgreifende und irreparable Persönlichkeitsstörung. Ritzen ist eine psychologisch oft als Impulskontrollstörung bezeichnete Erscheinung, die meistens temporär ist.

Was kann man dagegen machen?

Über die Haut können wir uns emotional beruhigen und Anspannungen abbauen. Dabei hilft Streicheln genauso wie kneifen oder ziepen. Gummibänder, die über die Arme gezogen werden, können demzufolge ähnliche Effekte erzielen wie das Ritzen. Weiterhin ist der innere Druck, sich ritzen zu müssen, auch durch andere starke Sinneseindrücke abbaubar: scharfe Gewürze, starke Gerüche wie Eukalyptus oder Pfefferminze. Im Prinzip hilft alles, was assoziierend wirkt, also das Hier und Jetzt ganz deutlich macht. Man kennt den Spruch: „Kneif mich mal, ich glaube, ich träume.“ Alle starken Reizungen wirken bewusstseinssteigernd und helfen gegen Dissoziationen.

Wer ritzt, will sich umbringen?

Nein! Jugendliche, die sich ritzen, sind nicht zwangsläufig suizidgefährdet. Denn Selbstverletzung ist parasuizidal. Wenn man sterben will, möchte man nichts mehr fühlen, wenn man sich selbst verletzt, möchte man sich fühlen. Dieser wichtige Unterschied führt dazu, dass Jugendliche, die sich ritzen, eher selten suizidgefährdet sind. Sprechen Sie ihn an, wenn Sie Anzeichen von autoaggressivem Verhalten entdecken. Fragen Sie nach den Beweggründen und seinen Empfindungen. Und sprechen Sie mit ihm über mögliche Alternativen, um Anspannung und Anstrengung abzubauen, ohne sich selbst zu verletzen. Ansprechpartner sind immer Psychotherapeuten oder Psychiater, bei besonders schweren Fällen auch die Klinik. Eine typische psychotherapeutische Arbeit könnte die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) sein.

Fazit

Das Ritzen gehört zu den Selbstverletzungen, die verschiedene Ursachen haben und besonders oft bei Jugendlichen in der Pubertät und Adoleszenz auftreten. In den meisten Fällen bleibt es temporär. Dennoch ist es wichtig, nicht wegzusehen, sondern gemeinsam nach nicht verletzenden Alternativen zu suchen.

Zurück