Ich schäme mich – das Drama der Enthüllung
Magdalena ist elf Jahre alt. Ihre Eltern sind sehr stolz auf sie. Denn sie spielt, wie sie ihren Freunden und der Familie gerne erzählen, unglaublich gut Geige. Sie sei hochbegabt, versichern sie immer wieder. Dafür darf Magdalena für ihren Geigenunterricht nun auch in die große Stadt zu einem berühmten Professor fahren. Das macht sie sehr stolz.
Als ein großes Fest ins Haus steht, soll Magdalena ein Geigenkonzert spielen. Die feinen Damen und Herren haben sich alle im Salon versammelt. Es wird still. Der Vater löscht das Saallicht; effektvoll ist nur ein Scheinwerfer auf die Bühne gerichtet. Erwartungsvoll schauen alle auf Magdalena, die mit ihrem Kleidchen und den Zöpfchen allerliebst aussieht. Sie hebt die Geige ans Kinn, blickt in all die Gesichter und stockt. "Sie ist wie gelähmt, da ihr plötzlich klar wird, dass sie nicht das Genie ist, wie die Eltern behaupten oder es sich wünschen. Keinen Ton bringt sie hervor. Panik steigt auf, Röte überzieht das Gesicht. Endlich naht Erlösung in Form ihrer Mutter, die entschuldigend ins Auditorium lächelt und beherzt das versagende Kind von der Bühne schiebt. “Das war sehr peinlich, und ich bin sehr enttäuscht von dir, Magdalena. Wenigstens diese kleine Freude hättest du uns nach all den teuren Unterrichtsstunden machen können…” Magdalena guckt zu Boden, sie ist feuerrot. Dann schlägt sie ihre Hände vors Gesicht und weint bitterlich.
Was ist hier passiert?
Ein Kompetenzideal wurde hier verfehlt. Magdalena entspricht nicht den Erwartungen ihrer Eltern, sie kann nicht den propagierten Erfolg und das versprochene Talent repräsentieren. Magdalena schämt sich ihres Versagens vor dieser Norm. Aber hat sie denn überhaupt behauptet, dass sie öffentlich auftreten könne und diesem Kompetenzideal ihrer Eltern entspräche? Nun, sie hat zumindest nicht widersprochen. Und sie hat den Vorteil dieses unwidersprochenen Kompetenzideals genossen. Sie wurde bewundert und hat exklusiven Unterricht bekommen. Auch widersprach oder revoltierte sie nicht, wenn ihre Eltern wiederholt stolz auf ihre Begabung waren.
Hat also Magdalena nur so getan, als wenn, hat sie “gelogen”?
In dem Moment, wo ihr Versagen öffentlich wird, beginnt das Schamdrama. Das Erröten kann vielleicht auch als archaische Form der Wiederverhüllung interpretiert werden. Die Hände vor dem Gesicht sind dabei eine magische Geste des Ungeschehenmachens. Und dennoch wurde sie ertappt, sie hat versagt, und jetzt wissen es alle. Das Schamdrama ist die Enthüllung. Magdalena hat der Kompetenznorm bisher entsprochen. Sie hat sich gerne als hochbegabtes Kind gezeigt, denn das elterliche Ideal verspricht bei Erfüllung Liebe und Geborgenheit. Nein, “gelogen” hat sie nicht, aber sie hat nicht alle Anteile gezeigt.
Doch bevor wir noch einen anderen Aspekt beleuchten, ein kleiner Exkurs in die Tiefenpsychologie:
Ein Baby wird gestillt. Die Mutter drückt es an sich und signalisiert: “Du bist mir lieb und teuer, du bist das Wichtigste, was ich habe, ich werde immer für dich da sein. Ich will dich nähren und großziehen.” Das Baby erfährt so, dass es sehr wichtig für die Mutter ist, und es auch wert ist, dass sie sich so um es kümmert. Man kann es auch als schwammige oder unklare frühe Form eines Selbstwerts ansehen. Der unmittelbare Lernprozess daran ist die Erfahrung, dass es eine unauslöschliche Verbindung zwischen Versorgung und Wertschätzung gibt, oder anders ausgedrückt: Versorgung und narzistische Bestätigung.
Diese Lernprozesse werden früh mit Erwartungshaltungen bei der Mutter / den Eltern verknüpft. Erste schmerzliche Negationserlebnisse werden erlitten, wenn nichterfüllte Erwartungen wie: “Was, das kannst du noch nicht?” etc. verbalisiert werden. Denn was heißt das konkret? Bewertung tritt an die Stelle von bedingungsloser Hingabe.
Ein zusätzliches Phänomen ist das Fremdeln, also das Schämen vor Blicken Fremder. Tomkins beschreibt in seiner Shame-humiliation-response-Theorie, dass der Blick des Fremden eben im Gegensatz zur Mutter keinerlei Bestätigung für das eigene Sein innehat. Das Kind wendet den Blick ab und senkt den Kopf und die Schultern. Diese Reaktion kann auch als Demuts- oder Unterwürfigkeitsgeste verstanden werden. Doch es geschieht unbewusst und erfüllte als Demutshaltung Überlebensaufgaben in einer Horde. Die Mutter ist sozusagen die Hüterin der Normen, die es allein ermöglichen, in einer Gruppe zu leben bzw. zu überleben. Diese frühe und rudimentäre Form unbewusster Scham kann auch als Proto-Scham bezeichnet werden, weil nicht wissentlich Normen erkannt oder verletzt werden.
Nun geschieht etwas, was man auch als individuelle Spaltung in private Person und öffentlich Person bezeichnen kann. Schon im frühen Kindheitsalter treffen Verbotsnormen auf die Proto-Scham-Vermeidung, die wiederum konträr zu Triebwünschen sind. Daher erreichen die Kompetenznormen unseres Beispiels Magdalena schon in der frühesten Kindheit. Ihre spezifische menschliche Subjektivität, also die ureigenste Privatheit, wird versteckt und weicht nach außen einem angepassten Verhalten. Man spricht auch von Aufspaltung von Person und Schatten (siehe auch “Schatten”-Begriff bei C. G. Jung).
Wir entdecken dadurch einen zweiten Aspekt: Dem Schamerleben, also dem Enthüllen des Scheiterns geht ein Verhüllen voraus. Das Schamdrama ist also nur unter diesen zwei Aspekten wirklich zu verstehen.
- Verhüllung: Magdalena entwickelt als Kind einen verhüllten “Schatten” und aufgrund von Überlebenswillen und Schutz- und Liebesbedürfnis eine “Person” (mhd. für Maske = auch sehr interessant). Diese “Person” erfüllt die Kompetenznormen, oder widerspricht diesen nicht.
- Enthüllung: Im Schamdrama kommt es zur Enthüllung des “Schattens” und damit des Aufdeckens ihrer Verhüllung. Die Nichtkongruenz von “Person” und “Schatten” wird offensichtlich.
Das Schamdrama bedingt also ausschließlich den Kontext einer zwischenmenschlichen Beziehung von mindesten zwei Menschen. Die in unserem Beispiel vom Sender (Eltern) gezeigte Wertschätzung mit ihrer Akzeptanz, Achtung und Anerkennung (manchmal bis hin zur Bewunderung) erzeugt beim Empfänger (Kind) Angenommensein, Dazugehörigkeit und narzistischen Selbstwert. (“Ich bin es Wert, dass meine Eltern mich lieben.”) Im Schamdrama stürzt man aus dieser Beziehung heraus. Eine erhebliche Selbstwerterschütterung ist die Folge.
Die Wertschätzung der Eltern ist gebunden an eine normative Bedingung. In unserem Beispiel sind es Kompetenznormen, die die Eltern an Magdalena stellen. Das verabredete Ideal zwischen Magdalena und ihren Eltern ist, dass sie hochbegabt ist und sehr gut Geige spielt. Im Schamdrama enthüllt sie das Versagen, oder noch krasser ausgedrückt, den Bruch mit der Verabredung. Sie hält sich nicht für hochbegabt, sie kann auch nicht Geige spielen. Was sie wirklich von sich hält, ist unklar. Zu sehr bestimmte bisher die normative Kraft der Eltern.
Zusammenfassung
- Scham setzt Beziehung zu anderen voraus. Das Subjekt erfährt Scham als existenziell.
- Das Schamdrama konzentriert sich auf den Komplex Enthüllung ./. Verwerfung.
- Um enthüllt zu werden, bedarf es immer einer Verhüllung, daher ist das Opfer immer auch Täter.
- Um sich zu verhüllen, bedarf es einer Aufspaltung in eine öffentliche (gute) Seite und eine private (schlechte) Seite. Wir nennen es hier nach Jungscher Diktion “Person” und “Schatten”.
Wie geht es vielleicht weiter?
Magdalena wird aus dieser existenziellen Erfahrung lernen. Sie kann sich gegen die idealisierten Normen entscheiden, aber damit auch die primären Vorteile entbehren (kein Geigenunterricht mehr beim Professor, kein Hochbegabtennimbus). Oder aber sie kann sich noch stärker diesen Kompetenznormen beugen und mithilfe internalisierter Glaubenssätze ihre Auftrittsangst zurückdrängen. Jahre später wird sie vielleicht Geige studieren. Plötzlich belasten sie Selbstzweifel und Lampenfieber. Und oft ist dann völlig unklar, woher das so plötzlich kommt...
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