Märchen als Symbole für unser Leben
Märchen spielen in unserem Leben eigentlich nur eine nebensächliche Rolle und beschränken sich auf die Kindheit. Doch damit unterschätzt man den Wert ihrer reichhaltigen Symbolik, die durch jahrhundertealte Verdichtung entstanden ist. Jeder Mensch wächst mit Geschichten auf. Sie begleiten uns ein Leben lang und spielen für unsere individuelle Entwicklung eine wichtige und prägende Rolle. Ob Erzählungen, Erlebnisse, Sagen oder Märchen, tagtäglich begegnen wir ihnen, und sie verlangen, dass wir uns zu ihnen verhalten. Ob an der Supermarktkasse der kleine Klatsch, im Fernsehen der Krimi oder das Buch im Bett. Egal wo wir sind, wir sind umgeben von imaginären Personen, die leben, leiden und lieben. Und wir freuen, gruseln oder ärgern uns darüber.
Symbole und Motive in Verdichtung und Metapher
Märchen sind Geschichten, die durch ihre jahrhundertealte mündliche Überlieferung immer wieder “entschlackt” wurden. So fallen Ausschmückungen, individuelle Charaktere und persönliche Ansichten weg. Übrig bleiben knappe Erzählungen über Themata, die offensichtlich viele Menschen über Generationen hinweg zu interessieren scheint.
Beginnend mit dem berühmten “Es war einmal…”, was aber gar nicht so oft vorkommt, wie man denkt, wird meistens eine Situation geschildert, die entweder problembehaftet ist oder sich als solche entwickelt. (Bei “Rotkäppchen” etwa scheint ja zu Beginn alles in Ordnung zu sein, hingegen bei “Fischer und siine Fru” sieht es ganz anders aus.) Wir begleiten nun im Märchen die handelnden Personen und erfahren ihre Herangehensweise. Und nicht selten stellen wir fest, dass der Prinz, der Frosch, der Fischer oder der Wolf eher Symbole für Haltungen und Handlungen sind. Es werden zu meisternde Schwierigkeiten angesprochen, die unseren eigenen ähneln. Damit meine ich nicht die Gegenständlichkeit einer goldenen Kugel oder eines sprechenden Butts, sondern die in diesen Bildern liegende Symbolik.
Aber grau ist alle Theorie und bunt nur das beredte Beispiel. Daher möchte ich anhand des berühmten Märchens “Der Fischer und siine Fru” auf den dort gezeichneten Beziehungskomplex eingehen, vor allem, warum das für uns von Nutzen ist und sich als wertvoll erweisen kann. Der Text kann hier online nachgelesen werden.
Ein Beziehungsdrama am Beispiel
Offensichtlich scheint die Moral der Geschichte zu sein: Die Habgier der Frau führt dazu, dass sie alles wieder verlieren. Der mahnende Zeigefinger sagt uns, dass man sich in bescheidener Mäßigung und Demut üben solle. So, fertig.
Doch schauen wir, ob es wirklich die Quintessenz des Märchens ist. Denn es wäre zu kurz gegriffen, wenn man die gesamte Geschichte auf diese Ermahnung reduzieren würde. Denn im Gegensatz zu berühmten Erziehungsromanen oder -geschichten, wuchs dieses Märchen in seiner Form über mehrere Jahrhunderte und enthält daher viele weiteren Ebenen, die den Erzählern der verschiedenen Generationen wichtig waren.
Konzentrieren wir uns aber nur auf die Repräsentanten der hier dargestellten Beziehung, den namenlosen Fischer und seine Frau Ilsebill. Betrachten wir als erstes den Fischer, der gegen seine innere Überzeugung die Befehle seiner Frau ausführt. Oberflächlich betrachtet tut er uns leid. Aber gucken wir genauer hin, merken wir, dass er nicht nur in seiner Opferrolle verhaftet ist. Er ist kein “lieber, armer” Mann, denn er ist auch mies. Immerhin beschwert er sich beim Butt über seine Frau. “Ich kann mich nicht wehren, meine Frau ist schuld, ich kann nichts dafür…” Kennen wir etwa diese Verhaltensmuster auch bei uns? Die Schuld wird gesucht und gezielt bei seinem Partner gefunden. Im Märchen werden alle Änderungen in dem gemeinsamen Leben durch Ilsebill gewünscht. Er verharrt in der sicheren Distanz der Entscheidungslosigkeit, aber in Fragen von Schuld positioniert er sich klar gegen seine Frau. Der Fischer nutzt die Errungenschaften seiner Frau, wahrscheinlich freut er sich über den vermehrten Luxus. Aber aggressionsgehemmt, ängstlich-dependent und konfliktmeidend ist er unfähig, einen eigenen Willen in die Tat umzusetzen.
Betrachtet man nun die Ilsebill, die uns überaktiv, habgierig und unersättlich scheint, so muss sie aber immer in der Kombination mit der kompletten Passivität ihres Mannes gesehen werden. Sie hat einen Namen, sie ist die handlungstragende Person, sie will für die Gemeinsamkeit etwas ändern (ein größeres Haus für beide oder kommende Kinder beispielsweise) Der Fischer will nichts ändern, vor allem für sich ist er zufrieden. Die Wünsche seiner Frau scheinen ihn nicht zu interessieren. Die sich nun entwickelnde Gier ist also auch eine Provokation an den Fischer, an seine Passivität und Wunschlosigkeit. (Auch hier ist die Rollenverteilung symbolisch und steht nicht für das heutige Männliche oder Weibliche. Die Vermessenheit Ilsebills führt ja dazu, auch Papst zu werden, eine Männerdomäne. Es scheint also ein sehr seltsames Beispiel für frauliche Wünsche, wenn man die Rollen nur als tradiertes patriarchalisches Klischee betrachtet.)
Nun nehmen wir ein Beispiel aus unserem Leben und denken darüber nach, wie oft unser Partner etwas anderes wollte als wir, und wie die unterschiedlichen Positionen und Meinungen auch immer eine egoistische Seite hatten. Und dann denken wir darüber nach, welche Wünsche des Partners auch Wünsche an uns sind, und welche Wünsche wir ihm entgegenstellen. Und schnell stellt man fest, dass der Impuls durch das Märchen größer als gedacht ist und die Symboliken tiefer gehen als die kurze Beschreibung ahnen lässt.
Doch nun wieder zum Märchen: Der Beginn offeriert uns also ein Beziehungsdrama. Das bewohnte Haus ist sehr arm, dreckig und extrem klein. Das Thema der Einengung bleibt bis zum Schluss. Keine Freunde, keine Familie, keine Kinder – nur sie beide und der Butt. Ob der Pisspott in seiner Ärmlichkeit oder der Papstpalast mit den turmhohen Kerzen – es bleibt starr, kalt und wenig einladend. Der Fischer angelt und begegnet einem sprechenden Plattfisch, der sich als verwunschener Prinz ausgibt. Meine erste Frage würde wahrscheinlich dahingehen, wer ihn verzaubert hätte und wie man ihn erlösen könne. Doch der Fischer ist so in sich erstarrt, dass er sich weder über einen sprechenden Fisch wundert, noch irgendetwas aktives oder helfendes anbietet. Das einzige, was er macht, er lässt ihn wieder frei.
Die Erlösungsfrage ist in dieser Situation aber sehr entscheidend. Denn was hat der sprechende Fisch mit dem Fischer und seiner Frau zu tun? Welche Aufgabe hat er, in dem er in sein Netz geht? Vielleicht geht es um den Wunsch nach Kindern, vielleicht ist es das Symbol eines eingeschlossenen Kindes des Paares (unerlöst, ungeboren, ungezeugt)? Fakt ist, der Fischer fragt nicht, der Fisch verschwindet unerlöst. Ilsebill ist es, die das Potenzial des Verwunschenen erkennt, nämlich, dass dieser auch Wünsche erfüllen kann. Ob es Wissen, Ahnung oder Hoffnung ist, wissen wir nicht. Aber sie will etwas verändern und nimmt daher jede sich bietende Gelegenheit.
Und plötzlich haben wir zwei genauer gezeichnete Personen. Da ist zum einen der resignierte Fischer, der seine Untätigkeit mit Bescheidenheit tüncht, und da ist zum anderen seine Frau Ilsebill, die die emotionale Leere mit Reichtum und Macht zu füllen sucht. Doch beides gelingt nicht, denn beide brauchen immer den anderen, um ihre eigene Untätigkeit zu kompensieren. Denn nicht Ilsebill spricht mit dem Butt, sondern der Fischer. Und nicht der Fischer verlangt für sich die Dinge, sondern für seine Frau. Und wenn man nun nochmal zurück zur Schuldfrage kommt, ist es genau genommen der Fischer selbst, der das Unmögliche verlangt, also verantwortlich für das letztendliche Fiasko ist. Das Märchen zeichnet ein dystopisches Bild einer verhängnisvollen Abhängigkeit, die sich immer mehr in Verzweiflung steigert. Zeigt zu Beginn die Frau ihrem Manne stolz das neue Heim und verweilt darin zwei Wochen, so reduziert sich das erhoffte Glücksgefühl immer mehr auf nur wenige Stunden, bis es ganz verfliegt. Denn sie begreift, dass die ihr gegebenen irdischen Güter und die ganze Macht nichts an der Leere zwischen ihr und dem Fischer ändert.
Und wenn wir jetzt noch einmal die vermeintliche Moral der Geschichte als Quintessenz beleuchten, stellen wir fest, dass das eigentliche Thema das Beziehungsdrama ist. Die Herausforderung ist dabei, dieser Beziehung nachzuspüren und in den symbolhaften Handlungen und Nichthandlungen Tendenzen unseres Lebens zu erkennen. Die Moral könnte also lauten: “Wenn man nicht aufeinander zugeht und sich für den anderen einsetzt, wird man niemals glücklich sein.”
Fazit
Hier geht es um keine Märcheninterpretation als solche. Viele weitere Symbole und Archetypen habe ich bewusst weggelassen. Hier geht es ausschließlich um die in Märchen beinhaltete Beziehungssymbolik. Aber nicht als intellektuell-interpretatorische Fingerübung, sondern als eine wichtige Erkenntnishilfe für eigene Probleme und Fragen. Sich in den Fragen und Aufgaben der Märchenfiguren wiederzufinden, kann eine viel höhere emotionale Erkenntnis haben als eine symptomatisch psychologische Beschreibung. Allein an der als Möglichkeit formulierten Moral zeigt sich, wie viele weitere solcher Sätze man formulieren könnte. All das steckt in Bildern, die dadurch stärker als jegliche Beschreibung sind. Denn Märchen sind Geschichten, die von uns als Menschen handeln und unser Leben beschreiben.
Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.