Nein sagen – die Kunst der Abgrenzung
Viele Menschen sagen zu vielem “ja”. Da ist es die Bitte, beim Umzug zu helfen, dort der flehentliche Blick, nur kurz auf die Kinder aufzupassen. Man kennt sie, die Nichtneinsager. Sie sind beliebt, ihre “Qualität” spricht sich rum. “Ach, Du musst morgen zum Möbelmarkt? Frag mal Jens-Uwe, der hat einen Kombi und hilft gern.” Aber natürlich gibt es auch andere Zeitgenossen. Diese bitten alles und jeden um Hilfe und entwickeln förmlich einen siebten Sinn dafür, wenn andere nicht “nein” sagen können.
Ottokar Schlumpiknuff-Krausswollnitz sitzt im Kreise seiner Miteltern. Es geht darum, wer den Vorstand der kommenden Jahre übernimmt. Alle gucken beredt zu ihm oder betreten nach unten. Er kann die Stille nicht aushalten: “Na gut, dann mache ich das.” Die anderen sind erleichtert. Er wird beglückwünscht und fühlt sich gut. Er ist der neue Vorsitzende des Elternbeirats des Kindergartens seines Sohnes Thorben-Hendrik. Gut, Thorben-Hendrik wird dieses Jahr noch eingeschult, aber bei der langen Verbindung zum Kindergarten kann man auch mal was für ihn tun. Aber nun muss er los, er versprach, für das abendliche Sommerkonzert noch Stühle zu stellen. Alle wollen mithelfen. Als er ankommt, steht er allein mit Frau Schüdelkufe-Mierenschuh in der riesigen Kirche. 300 Stühle sollen rausgetragen und auf der Wiese aufgestellt werden. Gesagt, getan. Abends kommen die Gäste. Sie freuen sich darüber, dass alles so schön hergerichtet ist. Pfarrer Wohlsag-Untat sieht unseren Protagonisten Ottokar Schlumpiknuff-Krausswollnitz mit einem Stuhl in der Hand und segelt lächelnd auf ihn zu: “Ach, wie schön, dass ich dich noch sehe. Sag mal, wie machen wir denn das mit dem Strom heute Abend? Der müsste noch rausgelegt werden.”
Und so weiter und so fort. Wir alle können uns sicherlich vorstellen, wie sich die Geschichte fortführen ließe.
Neinsagen, ein gesellschaftlicher Widerspruch?
Aber warum fällt es vielen Menschen so schwer, “nein” zu sagen? Meistens liegt es wohl daran, dass sie anderen nicht vor den Kopf stoßen oder sie kränken möchten, oder dass sie vermeiden wollen, als egoistisch und selbstsüchtig zu gelten. Manchmal geht es auch darum, keine “Schuld” bei anderen zu haben. Eine evolutionäre Grundeigenschaft des Menschen ist seine Kooperationsfähigkeit und sein Kooperationswille.
Die Tit-for-Tat-Mentalität, die gemeinhin als Talion von Aug’ um Aug’ und Zahn um Zahn übersetzt werden kann, ist ein Ausdruck der Reziprozität als Prinzip der Gegenseitigkeit und schon seit jeher Bestandteil menschlichen Zusammenlebens. (Ganz einfach erklärt: Wenn man etwas verschenkt, bekommt man etwas Wertgleiches zurück.) Deutlich wird tit for tat in einer sehenswerten Karikatur in der Verfilmung von “Spur der Steine” mit Manfred Krug alias Hannes Balla, in der sich die Kollegen zu Weihnachten eine “Kleinigkeit” überreichen… Groß! (siehe hier.)
Diese gegenseitige Abhängigkeit von Menschen ist ein Grundprinzip ihres Lebens, bzw. Überlebens. Direkt oder generalisiert erfüllt dieses Prinzip der Gegenseitigkeit schon in archaischer Zeit die Funktion von Schutz und Überleben. Noch heute wird dieses angeborene Verhalten verkaufspsychologisch genutzt, beispielsweise in Form von Geschenken, die einen animieren sollen, wiederum etwas für den Schenkenden zu tun (z. B. einen Handyvertrag zu unterschreiben, ein Auto zu kaufen oder ein Abonnement abzuschließen). Und manchmal geht es sogar soweit, dass vorauseilend Dinge erfüllt werden oder Hilfe angeboten wird, wo diese noch nicht einmal eingefordert oder angefragt wurde.
Viele Menschen durchlaufen in ihrer Entwicklung Trotz- und Negationsphasen. Und sie bemerken, dass Eltern dieses beständige “nein” nur schwer tolerieren. (Was ja im Prinzip auch der Sinn des Neins ist.) Sie erleben, dass ein Nein sanktioniert und geahndet wird, als sozial nicht hinnehmbar kommuniziert oder oft gar als unsozial eingestuft wird. Neinsagen macht einsam und die Eltern böse.
Welchen Vorteil haben wir davon, nicht “nein” zu sagen?
- Es ist es ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Wer mich fragt, ob ich ihm helfen könne, sagt mir indirekt, dass ich für ihn unverzichtbar und wichtig sei. Ihm zu helfen ist daher eine extrinsische Motivation und meist stärker als mein eigener Antrieb, für mich etwas zu tun.
- Für andere da zu sein, vermeidet emotionale und soziale Dissonanzen. Wenn ich derer Bitte Folge leiste, geht es ihnen gut, ich vermeide Ärger, Enttäuschung und Unverständnis. Ich bin sozial integriert.
- Wenn mich mein Gegenüber für wichtig und unverzichtbar hält, glaube ich ihm das mehr, als ich es mir glauben würde. Das Ja-Sagen hilft mir dabei, meinen Selbstwert zu polieren und zu erhöhen.
- Der Altruismus, also stets für andere da zu sein und seine eigenen Ansprüche denen der Gemeinschaft unterzuordnen, hat eine große und ethisch positiv konnotierte Tradition. In dieser zu agieren, sichert einem einen Platz in der Gesellschaft.
Wann merke ich, ausgenutzt zu werden?
- Ich werde seltsam misslaunig und ungehalten, wenn ich gefragt werde, anderen zu helfen. Ich merke, dass ich eigentlich nicht will und sage es nur nicht. Ich denke schlecht über mein Gegenüber und halte ihn für anmaßend oder/und faul.
- Ich kriege bei einer harmlosen Frage, ob ich etwas für jemanden tun könne, plötzlich einen Tobsuchtsanfall und beleidige den Fragenden. Dann rechne ich ihm alle meine auch weit zurückliegenden Hilfeleistungen vor. Ich fühle mich ausgenutzt, gedemütigt und total überfordert.
- Ich merke, dass immer die Gleichen die Stühle stellen, den Vorstand bilden, die Malerarbeiten ausführen und den Umzug fahren. Aber ich merke auch, dass “die Faulen” genauso angesehen sind, manchmal sogar mehr, wie mir scheint. Während ich arbeite, sitzen diese sich unterhaltend in der Sonne.
- Ich merke, dass ich von Tag zu Tag misslauniger werde und oft versuche, Menschen zu meiden. Jeder Tag ohne Mensch ist mir ein Festtag. Altruismus ist für mich nur noch ein Form von Strafe und sinnfreier Ausnutzung. Ich hasse mich dafür, dass ich anderen helfe.
Und wie ändere ich das nun?
10 Tipps, NEIN zu sagen
- Welche Dinge sind Dir wichtig? Schreibe Deine Prioritäten auf, die Dir wirklich wichtig sind. Das können Hobbys und Beschäftigungen sein, aber auch menschliche Verbindungen oder Zeiten, wo Du nichts tun möchtest. Setze Limits.
- Vereinbare mit Dir Termine, an denen Du nur etwas für Dich tust. Und diese Termine sind genauso wichtig wie irgendwelche anderen auch. Baue Zeitinseln ein. (Beachte bitte auch meinen Blogbeitrag über Achtsamkeit.)
- Schreibe Dir auf, warum Du für andere lieber etwas tust als für Dich. Warum ist die extrinsische Motivation höher als die intrinsische? Was hindert Dich daran, für Dich das Gleiche zu tun wie für andere?
- Beobachte Menschen, die oft “nein” sagen. Welchen Respekt der Umgebung genießen sie? Wie gehen andere mit ihrem “nein” um? Wieviel Ärger handeln sie sich wirklich ein? Und hast Du auch schon mal erfolgreich “nein” gesagt? Besinne dich darauf.
- Beobachte Dich, wie Du reagierst, wenn zu Dir “nein” gesagt wird. Reagierst Du vorwurfsvoll? Bist Du sauer, respektlos und enttäuscht? Magst Du die Personen jetzt weniger?
- Hinterfrage Dich, was passiert, wenn Du “nein” sagst. Also was geschieht im schlimmsten Falle? Ist es wirklich der gute Freund, der Dich für immer verlässt?
- Formuliere Absagen vor, so dass Du Dich nicht in Rechtfertigungen verhedderst.
- Übe das Nein-Sagen in Kleinigkeiten, ansonsten staut es sich, bis man ausrastet. Anfälle und Ausraster sind meistens ein Zeichen für eine viel zu späte Abgrenzung.
- Bitte Dir bei Anfragen eine Bedenkzeit aus. Reagiere nicht sofort, sondern gewinne Zeit. Und wenn Du denkst, dass der Zeitdruck manipulativ ist, sprich diese Wahrnehmung an.
- Höre auf die Warnungen anderer. Unausgeglichene Freundschaften oder ausnutzende Arbeitsbedingungen werden oft wachsam von Deinen Freunden gesehen und entsprechend kommentiert. Glaube denen, die es gut mit dir meinen, denn sie haben oft einen guten Blick darauf.
Bitte beachten Sie auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.